Die Große Grippe
„Wenn irgendetwas in den nächsten Jahrzehnten über 10 Millionen Menschen tötet, dann ist es höchstwahrscheinlich ein hochinfektiöses Virus und nicht ein Krieg. Keine Raketen, sondern Mikroben“. So Bill Gates 2015 in einem TedTalk. Wir hätten zwar stark in nukleare Abwehr investiert, aber „Wir sind nicht bereit für die nächste Epidemie.“
Er hatte Recht. Eine Pandemie hat die Welt getroffen, die Finanzmärkte in Aufruhr gebracht, die Weltwirtschaft in die Knie gezwungen – und fast alle unvorbereitet erwischt. Bis Mai hat SARS-CoV-2, das Virus, das COVID- 19 verursacht, die H1N1-Pandemie von 2009 bei der Zahl der Fälle und weltweiten Todesfälle bereits übertroffen. Die aktuelle Pandemie könnte letztlich mit den Episoden von 1957 und 1968 konkurrieren.
Seltene Ereignisse stellen Marktteilnehmer vor besondere Herausforderungen. Sind sie nur Zufallsereignisse? Wie rücken wir aktuelle Ereignisse in die richtige Perspektive? Die Geschichte lehrt jene, die unvoreingenommen nachfragen. Die nachfolgende Herleitung der Großen Grippe zeigt: Pandemien sind keine zufälligen Ereignisse.
Der Schatten von 1918
Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung, 500 Mio. Menschen, wurden von der Großen Grippe 1918–1920 infiziert. Die Sterblichkeitsrate lag bei etwa 2,5 %, verglichen mit 0,1 % bei der saisonalen Grippe. Damit war die Krankheit von 1918 25- mal schwerer als die durchschnittliche saisonale Grippe. Die Schätzungen der Gesamttodesfälle reichen von 50 bis 100 Mio. oder 2,5 bis 5 % der damaligen Weltbevölkerung. Eine vergleichbare Zahl von Todesopfern würde heute 180–390 Mio. Tote bedeuten – erschreckend und unvorstellbar. Eine Lektion ist also: COVID-19 ist nicht die Große Grippe.
Hinzu kam 1918 das Tempo. Die Grippe tötete schnell, oft innerhalb weniger Stunden nach der Ansteckung. Schätzungsweise zwei Drittel der gesamten Todesfälle ereigneten sich 1918 in nur 24 Wochen, und mehr als die Hälfte davon in weniger als drei Monaten, von Mitte September bis Anfang Dezember.
Die Große Grippe forderte innerhalb weniger Wochen mehr Menschenleben als die seit Jahrzehnten andauernde AIDS-Epidemie. Typischerweise befällt die normale Grippe sehr alte und schwache Menschen. Bei der Großen Grippe waren fast die Hälfte der Todesfälle junge Erwachsene zwischen 20 und 40. Schätzungsweise 47 % aller Todesfälle in den Vereinigten Staaten waren 1918 und 1919 auf die Große Grippe zurückzuführen.
Das Schlimmste war: Die Wissenschaftler kannten damals nicht einmal den Feind, um den es ging. Die Virologie selbst gab es noch kaum. Das verantwortliche Virus, das sich als eine Variante von H1N1 herausstellte, wurde erst 2005 identifiziert. Die Menschheit tappte im Dunkeln.
Was sind eigentlich Viren?
Viren gibt es schon seit Milliarden von Jahren. Dennoch wussten die Menschen die längste Zeit der Geschichte nichts darüber. Denn erstens waren Viren wohl kein Problem, bis vor etwa 5.000 Jahren die Verstädterung Überleben und Ausbreitung von Viren begünstigte. Einmal in engem Kontakt, brachten sich Mensch und Virus nie in ein gesundes Gleichgewicht. Stattdessen wird die Geschichte von wiederholten verheerenden Epidemien geprägt. „Allein in China zeigen Aufzeichnungen, dass zwischen 37 n. Chr. und 1718 n. Chr. 234 Ausbrüche schwer genug waren, um als Seuchen zu gelten – das ist eine alle sieben Jahre!“ Zweitens blieb die Übertragung im Dunkeln. Malaria zum Beispiel verbreitet sich von Mensch zu Mensch durch Mückenstiche, nicht durch menschlichen Kontakt. Und drittens gab es noch nicht die wissenschaftlichen Instrumente, um Viren zu entdecken. Viren sind viel kleiner als durchschnittlich große Bakterien.
Wir sind nicht mehr in Kansas
Zudem war die Menschheit 1918 blind für die Ursprünge. Plausibel ist, dass die Große Grippe ihren Anfang in Haskell County, Kansas, nahm – nicht in Spanien. Haskell befand sich in unmittelbarer Nähe eines Militärlagers, Camp Funston. Der frostige Winter 1917–1918 zwang die Rekruten, in provisorischen Zelten und überfüllten Baracken auf ihre Entsendung nach Europa in den Ersten Weltkrieg zu warten. Dies bot ideale Bedingungen für den Virusausbruch. Die hohe Infektionsfähigkeit der Influenza ging den Symptomen voraus, ein Merkmal, das wahrscheinlich das Ausmaß des weltweiten Elends und Todes während der Großen Grippe erklären kann.
Es brauchte nur einen Funken
Tatsächlich war die rasche Zunahme der US-Beteiligung am Ersten Weltkrieg die perfekte Zündkapsel für eine Pandemie. Die öffentliche Gesundheit trat gegenüber der Politik in den Hintergrund. Präsident Wilson äußerte sich nicht zur Grippe, und die Regierung konzentrierte sich auf die Mobilisierung für den Krieg.
Das Virus verbreitete sich rund um den Globus, von Europa nach Indien, China und Australien – lange vor den hypervernetzten Reise- und Handelswegen. Die bloße Anwesenheit eines Postboten schien zu genügen, um den Virus von Stadt zu Stadt zu verbreiten. Im Sommer 1918 fiel die Große Grippe in einen Winterschlaf, kehrte im Herbst mit großer Wucht zurück und verursachte die meisten Todesfälle.
Es gibt viele Theorien, warum die zweite Welle so tödlich war. Möglich ist, dass das Virus auf ein zweites Influenzavirus traf und eine neue, virulentere Krankheit entstand. Möglich ist auch, dass sich das Virus besser an den Menschen angepasst hatte.
Städte und Staaten, die weitgehend sich selbst überlassen waren, während Krankenschwestern und Ärzte in den Kriegsdienst gedrängt wurden, versuchten alles, um das Virus einzufangen. Einige Städte setzten strenge Vorgaben zur sozialen Distanzierung durch, andere, wie Philadelphia, waren viel nachsichtiger. In einer Analyse der Volkszählungsdaten von 1914 und 1919 entdeckten Forscher der New Yorker Federal Reserve, dass bestimmte Städte mit strengeren Maßnahmen nach dem Virus geringere Sterblichkeitsraten und höhere Beschäftigungsraten hatten. Dies gibt Hoffnung für unsere gegenwärtige Lage.
Heute sind wir besser dran
1918 lag die Menschheit weitgehend im Dunkeln und war extrem verwundbar. Die medizinische Kapazität wurde schnell überstrapaziert, die Behandlungen waren möglicherweise schlimmer als die Krankheit, und die Wissenschaftler konnten mehr als ein Jahrzehnt lang nicht einmal einen ersten Blick auf ein Virus werfen.
Obwohl wir noch wenig über SARS-CoV-2 wissen, so doch, dass die Welt bis 2020 immense Fortschritte gemacht hat. Vielleicht ist einer der Gründe, warum uns das Virus so erschreckt, dass wir uns daran gewöhnt haben, an anderen Dingen zu sterben – ein moderner Luxus. 1918 war die Lebenserwartung bei der Geburt in den USA und Europa nicht höher als 50 Jahre.
Die gegenwärtige Pandemie können wir nicht als ein isoliertes, zufälliges Ereignis betrachten und als Pech verbuchen. Die Menschheit kämpft seit Jahrhunderten gegen Viren – die meisten davon mit verheerenden Folgen aufgrund großer Unwissenheit. Während dichtere Populationen gegen bekannte Viren Resistenzen aufbauen, sind sie für neue Viren anfällig.
Unsere größte Chance ist, den Fortschritt unermüdlich voranzutreiben. Der medizinische Fortschritt lässt sich unter anderem am Austausch zwischen Wissenschaftlern messen, die bei der Entwicklung von Behandlungen und Impfstoffen zusammenarbeiten. Ein sprunghafter Anstieg der wissenschaftlichen „Preprints“ im März und April 2020 zeigt, dass sich die Forscher beeilen, Informationen mit der Welt zu teilen. Das Bemühen könnte schneller denn je zu Ergebnissen führen. Bill Gates ist hier vorsichtig optimistisch: „Obwohl 18 Monate [für einen Impfstoff] sehr lange scheinen, wäre dies bisher der kürzeste Zeitraum für die Entwicklung eines neuen Impfstoffs.“ Vielleicht war die Menschheit noch nie zuvor so einig in der Suche nach einer Lösung.
Wir können uns glücklich schätzen, dass die aktuelle Pandemie im Vergleich zur Großen Grippe stagniert – aber wir sollten diese Gelegenheit auch nutzen, um zu lernen, wie wir die nächste Pandemie verhindern können, denn sie wird kommen.