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F.A.Z. Printausgabe, 13.07.2023 von Christian Siedenbiedel
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13.7.2023
Sorge vor einer zweiten Welle der Inflation
Das Bankhaus Metzler warnt: Die Aktienmärkte könnten im Jahresverlauf in turbulentere Fahrwasser geraten
Carolin Schulze Palstring traut den ruhigen Aktienmärkten im Moment nicht. Die Leiterin der Kapitalmarktanalyse beim traditionsreichen Bankhaus Metzler meint, in den Narrativen, die im Augenblick das Geschehen an den Kapitalmärkten prägten, gebe es einen inneren Widerspruch. Und so etwas berge immer Risiken in sich.
Die positive Entwicklung ist schließlich nicht zu übersehen. Seit dem Tiefpunkt im Herbst 2022 entwickeln sich die Aktienmärkte überaus erfreulich. Schulze Palstring spricht sogar von einem regelrechten "Kursfeuerwerk". Die Kurszuwächse liegen in diesem Jahr vielerorts im zweistelligen Prozentbereich, und an einigen Börsen wurden zuletzt sogar neue Rekordstände erreicht.
Doch die Voraussetzungen, unter denen das alles gerade passiert, sind zwei Annahmen. Die eine: Die Rezessionsängste waren übertrieben, es kommt für die Wirtschaft nicht so schlimm wie befürchtet. Und die andere: Die Leitzinsen, in den Vereinigten Staaten wie im Euroraum, könnten bald wieder sinken.
Schulze Palstrings These nun ist: Isoliert betrachtet haben beide Sichtweisen durchaus ihre Daseinsberechtigung. Es lassen sich sowohl Gründe gegen eine Rezession als auch für sinkende Zinsen finden. Nur: Dass beides zusammen eintrete, sei "äußerst unwahrscheinlich": "Unter den aktuellen Umständen erscheint es geradezu paradox", meint die Kapitalmarktexpertin.
Warum? Derzeit setzten sinkende Leitzinsen einen nachhaltigen Rückgang der sogenannten Kerninflation voraus, also der Teuerung ohne stark schwankende Preise wie die für Energie und Lebensmittel. "Dieser ist wiederum mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit verknüpft, der erst dann eintritt, wenn es mit der Wirtschaft bergab geht", sagt Schulze Palstring. Sie meint daher: In der zweiten Jahreshälfte könnte ein böses Erwachen an der Börse drohen: entweder weil sich das Wirtschaftsumfeld unverhofft stark verschlechtere - oder weil die Notenbanken bei ausbleibender Rezession länger als von den Märkten erwartet ihrer restriktiven Geldpolitik treu blieben.
Carolin Schule Palstring, Leiterin Kapitalmarktanalyse Metzler Private Banking
Ihre Prognose: Der Gegenwind für die Konjunktur dürfte zunehmen. Die verbesserten Konjunkturperspektiven zum Jahresanfang 2023 seien durch ein Zusammenspiel von Sonderfaktoren geprägt gewesen. Insbesondere das Abklingen der Energiekrise in Europa und die Öffnung in China hätten dazu beigetragen, dass Ökonomen ihre Wachstumsprognosen hochsetzten und der Optimismus an den Märkten wieder zunahm. Selbst die höheren Zinsen beeinträchtigten die Wirtschaft nur moderat, weil nachgelagerte Effekte aus der Corona-Pandemie wie die üppigen Zusatzersparnisse der Haushalte und der hohe Auftragsbestand in der Industrie die Konjunktur widerstandsfähig machten.
Gerade in Amerika sei aber zu beobachten, dass die aufgestauten Ersparnisse dahinschmelzen und die Inflation an der Kaufkraft der noch vorhandenen Rücklagen zehre. Unterdessen normalisierten sich die Auftragsbestände in Europa zusehends, da die Lieferkettenprobleme größtenteils gelöst seien. "Die global nachlassende Nachfrage könnte also bald wieder stärker auf die Produktion durchschlagen", meint Schulze Palstring. Im Zuge der Bankturbulenzen zuletzt seien zudem die Risiken für die Finanzstabilität größer geworden. Die Banken dies- und jenseits des Atlantiks strafften ihre Kreditvergabestandards und belasteten damit die Konjunktur zusätzlich. Metzler schließt daher einen "nachgelagerten Wirtschaftseinbruch" in den Vereinigten Staaten und in der Eurozone nicht aus.
Ein Blick in die Geschichte zeige: Nur äußerst selten sei es den Notenbanken mit Zinserhöhungen gelungen, die Nachfrage zu bremsen, ohne dadurch früher oder später eine Rezession auszulösen. In den Vereinigten Staaten beschränkten sich die wenigen Ausnahmen auf die Jahre 1965, 1984 und 1994. "In den meisten Fällen schlitterte die Wirtschaft unmittelbar im Anschluss an Zinserhöhungen in einen Abschwung", sagt Schulze Palstring. Da Zinsänderungen mit einer beträchtlichen Verzögerung auf die Realwirtschaft wirkten und Konjunkturdaten erst nachträglich veröffentlicht würden, entschieden Notenbanken immer auf Basis einer unsicheren Datenlage: Die Gefahr geldpolitischer Fehler sei hoch.
Die Aktienmärkte könnten im weiteren Jahresverlauf noch einmal in turbulentere Fahrwasser geraten.
Selbst wenn es den Notenbanken vorübergehend gelänge, eine Abkühlung der Inflation zu bewirken, ohne die Konjunktur abzuwürgen, ginge dies mit der Gefahr einer wieder steigenden Inflation einher, meint sie. "Die Vergangenheit dient hier als warnendes Beispiel." Mitte der Siebzigerjahre sei in Amerika die Inflation schnell gesunken und die Fed habe schon vor dem Erreichen des Inflationsziels die Leitzinsen wieder gesenkt. Das leistete einer zweiten, noch heftigeren, Inflationswelle Vorschub. "Der Markt ist unseres Erachtens nicht auf ein solches Szenario eingestellt", sagt die Kapitalmarktexpertin.
Hinsichtlich des Wirtschaftswachstums wiederum scheine an den Märkten weitgehend Konsens zu herrschen, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Einbruch eher gering sei. Viele rechneten nur mit einer "Delle". "Investoren sollten jedoch nicht den Fehler begehen und von der Schwere einer Rezession auf das Ausmaß des zu erwartenden Kursrückgangs an den Börsen schließen", sagt Schulze Palstring. Aus historischen Daten lasse sich ableiten: Gerate die Wirtschaft in eine Rezession, fielen in der Regel zwar die Aktienkurse: "Es kann jedoch keine Aussage darüber getroffen werden, wie stark sie fallen." Schulze Palstring meint: "Die Aktienmärkte könnten im weiteren Jahresverlauf noch einmal in turbulentere Fahrwasser geraten." Metzler hat entsprechend die Anlagestrategie für vermögende Privatkunden angepasst: "Unsere vorsichtige Haltung äußert sich in einer reduzierten Aktienquote von rund 80 Prozent, einer zusätzlichen Teilabsicherung sowie einer höheren Gewichtung defensiver Branchen als üblich."