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CIO:view | Spotlight - 17.11.2025

Zeit für eine emanzipatorische Renaissance Europas

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Europa steht an einer Wegscheide. Das Ende der regelbasierten Ordnung, der Zusammenbruch globaler Lieferketten und die machtpolitische Instrumentalisierung von Energie und Handel haben das europäische Wohlstandsmodell der Nachkriegszeit obsolet gemacht. Der Kontinent, lange geprägt von ökonomischer Abhängigkeit und strategischer Zurückhaltung, steht vor der Herausforderung, sich im Zeitalter geopolitischer Fragmentierung neu erfinden zu müssen. Europas Antwort darauf darf sich dabei nicht auf eine bloße Reaktion auf die Machtdemonstration anderer Staaten beschränken. Vielmehr sollte Europa die geopolitische Zeitenwende als historische Chance zur Selbstbehauptung begreifen. Das übergeordnete Ziel sollte darin bestehen, sich von äußeren Abhängigkeiten so weit wie möglich zu emanzipieren und als politisch souveräne, wirtschaftlich konkurrenzfähige und sicherheitspolitisch handlungsfähige Kraft aufzutreten, ohne jedoch den offenen Austausch mit der Welt aufzugeben.

Wettbewerbsfähigkeit im Fokus der EU-Industriepolitik

Der europäische Standort hat in den vergangenen Jahren an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Bürokratie, hohe Energiepreise und Steuern belasten die Unternehmen und dämpfen die wirtschaftliche Dynamik. Doch ein Paradigmenwechsel ist spürbar. Anders als in den USA wird die Fiskalpolitik inzwischen gezielter eingesetzt als früher: Die Wiederaufbau- und Kohäsionsmittel der Europäischen Union (EU), die noch bis Ende 2026 abgerufen werden können, schaffen einen Investitionsrahmen, der Wettbewerbsfähigkeit mit Nachhaltigkeit verbindet. Die Europäische Zentralbank wiederum hat mit entschlossenen Zinssenkungen die Voraussetzung für günstigere Finanzierungsmöglichkeiten geschaffen.

Um eine starke Wettbewerbsposition mit der gleichzeitig angestrebten grünen Transformation der Wirtschaft in Einklang zu bringen, hat die EU-Kommission eine Reihe von Initiativen gestartet. Die Omnibus-Verordnungen etwa zielen darauf ab, ESG-Richtlinien zu entschärfen oder zu verschieben. Damit soll der jährliche Verwaltungsaufwand für Unternehmen in der EU bis 2029 um rund 37 Milliarden Euro verringert werden. 

Grüner Protektionismus der EU problematisch

Neben der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit setzt die EU-Kommission allerdings auch auf „grünen Protektionismus“, der die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen insgesamt eher gefährdet. So sieht der Clean Industrial Deal unter anderem die Einführung von Nachhaltigkeitslabels für in der EU produzierte Waren vor, die bei öffentlichen Beschaffungsverfahren bevorzugt berücksichtigt werden sollen. Mit dem CO2-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism) hat die EU ein Klimaschutzinstrument eingeführt, das für große Importeure ab 2026 emissionsintensive Vorprodukte aus Drittländern bei Einfuhr in die EU besteuert. Auch diese Maßnahme zielt auf einen Schutz der heimischen Industrie, dürfte aber gleichzeitig EU-Unternehmen benachteiligen, die diese Vorprodukte verarbeiten. Zudem besteht die Möglichkeit, dass Handelspartner der EU den Grenzausgleich als Zoll verstehen, was neue Handelskonflikte provozieren könnte.

Deutschlands Reformpfad zeigt die richtige Richtung

Grundsätzlich positiv stimmt uns, dass Deutschland als wirtschaftliches Schwergewicht der EU damit begonnen, die Fehler der vergangenen Dekade zu korrigieren. Steuerliche Entlastung, Sonderabschreibungen und beschleunigte Genehmigungsverfahren sind erste wichtige Schritte, um Kapital und Talent anzuziehen. Weitere Schritte, wie die drängende Reform der Sozial- und Rentensysteme müssen aber folgen. 

Verteidigungsfähigkeit als industriepolitischer Faktor

Nach dem Zerfall der Sowjetunion profitierte Europa erheblich von der Friedensdividende. Diesen Zeiten sind Geschichte und was früher als fiskalische Belastung galt, ist heute industriepolitische Notwendigkeit. Mit dem Aufbau einer europäischen Verteidigungsarchitektur wächst in Europa ein neuer Binnenmarkt für Sicherheit und Technologie. Alle europäischen NATO-Staaten werden in diesem Jahr erstmals das Ziel erreichen, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) in Verteidigung zu investieren. Bis 2035 sollen die Ausgaben auf 3,5 Prozent des BIP steigen, weitere 1,5 Prozent sollen für unterstützende Infrastrukturmaßnahmen bereitgestellt werden. Von den Investitionen dürfen erhebliche Spillover-Effekte ausgehen auf Unternehmen im Maschinenbau-, Elektronik- und Digitalsektor. 

Die Investitionen in Sicherheit sind daher mehr als eine Reaktion auf äußeren Druck, sie sind auch Ausdruck einer neuen ökonomischen Souveränität. Gleichzeitig zeigt die verteidigungspolitische Entschlossenheit der EU, dass sie machtpolitisch erwachsen geworden ist. 

Energieversorgung: Resilienz statt Abhängigkeit

Der Energiepreisschock im Jahr 2022 hat die Verwundbarkeit Europas offengelegt, zugleich aber auch den strukturellen Wandel der europäischen Energiemärkte vorangetrieben. Heute ist der Anteil fossiler Brennstoffe an der Stromproduktion in der EU auf einem historischen Tiefstand. Erneuerbare Energien decken nahezu die Hälfte des Strombedarfs. Die erheblichen Investitionen in Netze, Speicher, grünen Wasserstoff, Atomenergie und flexible Gaskraftwerke bilden dabei das Rückgrat einer neuen Energiearchitektur. Diese Investitionen sind mit hohen Kosten verbunden, tragen aber langfristig dazu bei, Europas Abhängigkeit von Energieimporten zu verringern. 

Auch wenn die Energietransformation derzeit in Form höherer Strompreise, besonders in Deutschland, negative Effekte zeigt, sorgt diese Resilienz für langfristige Planungssicherheit sowohl für Unternehmen als auch für Haushalte. Für Deutschland dürfte die zentrale Herausforderung darin bestehen, den Transformationsprozess erfolgreich zu gestalten, ohne einen wesentlichen Teil seiner energieintensiven Industrie zu verlieren.

Europas Emanzipation bietet Anlagechancen

Aus Anlegersicht überwiegen die Chancen die Risiken bei der Emanzipation Europas. Während die USA und China bei vielen Zukunftstechnologien führend sind und Europa hier dringend aufholen muss, zählen europäische Unternehmen heute zu den globalen Champions in vielen Industrieanwendungen, wie der Automatisierung, dem Anlagenbau und Elektrifizierungslösungen. 

Sollten die staatlichen Investition in den Bereichen Infrastruktur und Aufrüstung wie angekündigt umgesetzt werden, dürfte auch die aktuell verhaltene wirtschaftliche Dynamik wieder zunehmen. Das würde sich über Spillover-Effekte auch in der Breite positiv auf die Unternehmensgewinne auswirken, und die im Vergleich zu den USA moderateren Bewertungen könnten europäische Aktien attraktiver machen. Zu den direkten Profiteuren der Investitionsprogramme zählen neben Infrastrukturunternehmen vor allem der Rüstungssektor, in dem es europäischen Firmen gelingen könnte, zu den in vielen Bereichen führenden US-Unternehmen aufzuschließen. Zusätzlich dürften Banken von den anstehenden Investitionsvorhaben profitieren, da sie diese wesentlich mitfinanzieren werden. Und sollte es zu einem Waffenstillstand im Ukraine-Krieg kommen, könnten zyklische Aufholinvestitionen einen weiteren Impuls für europäische Unternehmen bringen.

Ungleiche Finanzlage der EU-Staaten als Herausforderung 

Für die europäischen Staatsanleihenmärkte wird es entscheidend sein, dass der europäische Weg zu mehr Souveränität nicht in einer Schuldenkrise endet. Die neuen Ausgaben für Sicherheit, Infrastruktur und Energieautonomie werden die bereits angespannten öffentlichen Haushalte vieler EU-Länder weiter belasten. Zwar liegt die mittlere Schuldenquote aller EU-Mitgliedstaaten laut Eurostat bei komfortablen 80,7 Prozent, doch die Unterschiede zwischen den Ländern sind erheblich. Während Deutschland mit einer Quote von 62,2 Prozent die beschlossene signifikante Ausweitung der Verschuldung gut verkraften kann, ist die Haushaltssituation in anderen Mitgliedsländern erheblich angespannter.

Besonders problematisch ist die Lage in Frankreich, das zudem ein Primärdefizit – also ein negatives Haushaltssaldo vor Zinszahlungen – für 2026 von geschätzt 3,6 Prozent des BIP aufweist. Hinzu kommt eine der höchsten Staatsquoten in der EU, mit Staatsausgaben, die 57,3 Prozent des BIP ausmachen. Selbst wenn es zu deutlichen Sparanstrengungen und Umverteilungen im französischen Haushalt käme, wären negative Auswirkungen auf die Realwirtschaft kaum zu vermeiden. Die finanziellen Voraussetzungen in Europa sind folglich ungleich verteilt, und für einige Länder dürfte die Emanzipation Europas einer haushaltspolitischen Herkulesaufgabe gleichkommen.

Fazit – Die stille Renaissance

Europa emanzipiert sich, langsam, aber entschlossen. Der Kontinent, lange belächelt für regulatorische Trägheit und fiskalische Strenge, hat begonnen, seine ökonomischen und politischen Schwächen in strategische Stärken zu verwandeln. In einer Welt der Blöcke setzt er auf Integration statt Isolation, auf Ausgleich statt Eskalation. Der Preis dafür ist hoch, die Reformen schmerzhaft. Doch die Richtung stimmt: 2026 dürfte die europäische Wirtschaft wieder Tritt fassen, 2027 über dem Trend wachsen. Es ist der Beginn einer stillen Renaissance – getragen von der Einsicht, dass Wohlstand ohne Souveränität keine Zukunft hat.