Staatsschulden – wann wird es kritisch?
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Staatsschulden sind zurück auf der Agenda der Finanzwelt – und könnten zum dominierenden Risikofaktor der kommenden Jahre werden. Um die Schuldentragfähigkeit eines Staates und die Risiken besser beurteilen zu können, ist jedoch ein differenzierter Blick nötig. Europa steht beispielsweise besser da, als es manch Schlagzeile vermuten lässt.
Über Jahrzehnte galten Staatsanleihen als unerschütterliches Fundament des globalen Finanzsystems: Sie waren der „risikofreie“ Zinssatz, an dem sich Unternehmensanleihen, Aktienbewertungen, Immobilienrenditen und selbst Private-Equity-Kalkulationen orientierten.
Differenzierter Blick auf Schulden und Staatseinnahmen nötig
Erste Risse bekam dieses scheinbar sichere Fundament mit der europäischen Staatsschuldenkrise 2010. Sie rief den Marktteilnehmern ins Gedächtnis, dass auch staatliche Schuldner scheitern können. Auch heute stehen wir vor historischen Höchstständen bei Schulden und Defiziten, die in vielen Ländern über die Konjunkturzyklen hinweg strukturell hoch bleiben. Daher ist die Frage drängender denn je: Wie tragfähig sind die Säulen unseres Finanz- und Wirtschaftssystems noch?
Ein Blick auf das Verhältnis von Schulden zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist zwar geläufig, greift aber zu kurz. Die Schuldentragfähigkeit bemisst sich nicht daran, wie viel Wertschöpfung eine Volkswirtschaft insgesamt erzielt, sondern daran, wie hoch ihre Einnahmen sind, aus denen Zins und Tilgung bedient werden müssen. Das Verhältnis von Schulden zu Staatseinnahmen bietet daher ein deutlich schärferes Bild der Risiken.
Quellen: OECD, Metzler; Stand: 30.6.2025
Gerade Europa steht unter diesem Blickwinkel oft besser da, als es die Schlagzeilen vermuten lassen. Länder mit hohen Steuerquoten – wie Frankreich, Italien oder Deutschland – haben eine stabile Einnahmenbasis, die ihre hohe Schuldenlast relativiert. Italien, häufig als Sorgenkind Europas genannt, liegt 2025 bei rund 300 Prozent der Staatseinnahmen. Die USA kommen auf etwa 400 Prozent, Japan auf über 570 Prozent. Diese Kennzahl rückt die Lage in ein anderes Licht: Während Italien oft in den Fokus von Anleiheinvestoren gerät, sind die Bilanzen der USA oder Japans nach diesem Maßstab nicht weniger angespannt.
Der Hedgefonds-Manager Ray Dalio hat in seiner monumentalen Analyse „Big Debt Crises“1 gezeigt, dass eine Staatsverschuldung in Prozent der Staatseinnahmen von mehr als 350 Prozent historisch häufig der Schwellenwert war, ab dem Staaten in den kritischen Teil eines Schuldenzyklus eintraten – mit steigenden Risikoaufschlägen, Verlust des Anlegervertrauens und oft geldpolitischen Notmaßnahmen. So erreichte Griechenland im Jahr 2009 einen Wert von genau 350 Prozent der Staatseinnahmen – kurz vor Ausbruch der Schuldenkrise. Diese Kennzahl wirkt somit wie ein Frühwarnsystem: Sie zeigt, wo es beginnt, brenzlig zu werden, und sie entkräftet übertriebene Panik, wo die Fundamentaldaten noch einigermaßen akzeptabel sind.
Die Teilnehmer an den Finanzmärkten blicken aber nach vorn: Entscheidend ist daher nicht nur der Ist-Zustand, sondern die Dynamik: Wie wird sich die Verschuldung in den kommenden Jahren entwickeln? Vier makroökonomische Faktoren bestimmen die Antwort:
- Reales Wachstum: Historisch ist starkes Wachstum der eleganteste Weg, Schuldenquoten zu senken. Doch das Trendwachstum vieler Volkswirtschaften ist seit der Finanzkrise 2008 rückläufig. Das Potenzialwachstum der Eurozone liegt derzeit bei rund 1 Prozent, das der USA bei etwa 2 Prozent. Solche Wachstumsraten reichen nicht aus, um Schuldenstände spürbar zu reduzieren. Ein möglicher Joker ist die Künstliche Intelligenz (KI): Einige Ökonomen prognostizieren eine neue Produktivitätswelle, die das Potenzialwachstum bis zu 10 Prozentpunkte heben könnte. Doch wann es zu diesem Schub kommt und wie stark er sich auswirken wird, ist ungewiss.
- Zinsniveau: Die Zinskosten sind der unmittelbar wirkende Belastungsfaktor für die Staatshaushalte. Laut OECD dürften die USA 2025 rund 13 Prozent ihrer Staatseinnahmen für Zinsen aufwenden – fast doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Japan, trotz seiner riesigen Schuldenlast, zahlt wegen extrem niedriger Zinsen aktuell nur 0,5 Prozent. Europäische Staaten bewegen sich meist im einstelligen Bereich. Historisch gelten laut Ray Dalio Zinslasten von über 15 Prozent der Einnahmen als Warnschwelle – jenseits dieser Marke kippten in der Vergangenheit häufig die Schuldenpfade. Die USA könnten diesen kritischen Wert schon bald erreichen, sollte die Zinsstrukturkurve unverändert hoch bleiben.
Quellen: OECD, Metzler; Stand: 30.6.2025
- Primärsaldo: Der Primärsaldo – also der Haushaltssaldo ohne Zinszahlungen – ist das zentrale Stellrad der Finanzpolitik. Ohne Primärüberschüsse lassen sich Schuldenpfade nicht stabilisieren. Historische Arbeiten von Barry Eichengreen und Rui Esteves belegen, dass Phasen erfolgreichen Schuldenabbaus fast immer von mehrjährigen Primärüberschüssen begleitet waren. Ohne sie steigen die Schuldenquoten immer weiter – bis eine Konsolidierung erzwungen wird, sei es durch harte Sparprogramme, Inflation oder gar eine Schuldenrestrukturierung.
- Inflation: Moderate Inflation kann Schulden relativ zum BIP verringern, doch wenn sie außer Kontrolle gerät, steigt die Risikoprämie auf Staatsanleihen und verteuert die Finanzierung. Historisch wurden Schuldenprobleme oft durch eine Mischung aus Inflation und finanzieller Repression „gelöst“.
Der wunde Punkt: Primärdefizite in den USA
Für 2025 wird in den USA ein Primärdefizit von etwa 3,4 Prozent des BIP erwartet, was absolut rund einer Billion US-Dollar entspricht. Das Congressional Budget Office (CBO) geht davon aus, dass dieses Defizit über Jahre strukturell bestehen bleibt. Mit jeder neuen Billion US-Dollar steigt die Verschuldung um rund 10 Prozentpunkte der Staatseinnahmen – eine Dynamik, die sich in der Wirtschaftsgeschichte meist nicht lange ohne Marktreaktionen durchhalten ließ. Auch Großbritannien und Frankreich kämpfen mit ähnlich hohen Primärdefiziten. Immerhin haben beide Länder trotz politischer Turbulenzen erste Sparprogramme in Arbeit. Die USA haben mehr fiskalischen Spielraum als andere Länder aufgrund des Status des US-Dollar als Weltreservewährung. Europäische Länder stehen dagegen stärker unter Druck, die eigenen Staatshaushalte zu sanieren. Das Wohl und Wehe von Ländern wird sich daran entscheiden, ob sie noch politisch handlungsfähig sind, kurzfristig schmerzhafte Reformen und Sparmaßnahmen umzusetzen. In den USA fehlt bisher der politische Wille, die Haushaltsdynamik zu bremsen – eine Situation, die Erinnerungen an die 1970er-Jahre weckt, als steigende Defizite, hohe Zinsen und eine Vertrauenskrise in den US-Dollar eine Phase erheblicher Marktvolatilität auslösten. Erst Druck durch die Finanzmärkte könnte hierfür den notwendigen Richtungswechsel erzwingen.
Quellen: OECD, Metzler; Stand: 30.6.2025
Die Märkte beginnen zu reagieren
Noch herrscht an den Anleihemärkten keine Panik. Die Renditen 10-jähriger US-Treasuries sind seit Jahresbeginn dank erwarteter Leitzinssenkungen moderat gefallen, in Europa und Japan dagegen moderat gestiegen. Auffällig ist jedoch die Bewegung am langen Ende: Die Renditen 30-jähriger Papiere sind in den USA seit Jahresanfang unverändert. Vielerorts sind sie sogar deutlich gestiegen. In Japan erreichte der Renditeabstand zwischen 30- und 2-jährigen Anleihen Rekordwerte. Diese Versteilung der Kurve signalisiert, dass Investoren zwar noch Vertrauen in die kurzfristige Zinskontrolle der Notenbanken haben, aber steigende Prämien für langfristige Risiken verlangen – sei es für Inflation, Defizite oder Währungsabwertung. Die Inflationserwartungen in den USA und Japan bleiben bislang erstaunlich stabil, doch kann sich dies schnell ändern, wenn Märkte eine geldpolitische Reaktion auf steigende Schulden antizipieren.
Quellen: Bloomberg, Metzler; Stand 31.8.2025
Politischer Druck auf Notenbanken – und das Risiko finanzieller Repression
Die Geschichte zeigt: Steigen die Schulden und die Zinslast zu stark, wächst der politische Druck auf die Notenbanken, Zinsen künstlich niedrig zu halten. Niedrige Leitzinsen stützen zwar kurzfristig Wachstum und Steuereinnahmen – sie verschieben die Last aber in die Zukunft und können mittelfristig Inflation erzeugen.
Die Erfahrungen während der europäischen Staatsschuldenkrise haben gezeigt, dass weltweit die Bereitschaft für Schuldenschnitte und schmerzhafte Austeritätspolitiken eher gering ist. In den USA hat Präsident Trump die Unabhängigkeit der Notenbank Fed bereits offen infrage gestellt. In Europa ist die Europäische Zentralbank zwar institutionell stärker abgesichert, dürfte aber im Krisenfall ebenfalls intervenieren, um eine Panik unter den Marktteilnehmern zu verhindern – selbst um den Preis einer höheren Inflation. Die Folge ist eine perspektivisch steigende Inflation, die wiederum die Staatsschulden reduziert. In gewissem Sinne scheinen der Goldpreis und der schwache Wechselkurs des US-Dollar diese Risiken derzeit besser widerzuspiegeln als die Staatsanleihemärkte.
Der Beginn eines neuen Schuldenzeitalters
Die Welt steht am Anfang eines neuen Schuldenzyklus. Die großen Volkswirtschaften haben einen Punkt erreicht, an dem Defizite, Zinslasten und politische Zwänge zunehmend die Fiskalpolitik bestimmen. Solange es nicht gelingt, Primärüberschüsse zu erzielen und den Schuldenpfad zu stabilisieren, bleiben die Märkte anfällig. Noch reagieren die Investoren mit bemerkenswerter Gelassenheit, doch die historische Erfahrung lehrt: Je länger der Kurs in puncto Staatsdefizit unverändert bleibt, desto schärfer können die Korrekturen ausfallen. Die Frage lautet daher nicht ob, sondern wann Staatsschulden zum Auslöser der nächsten Finanzmarktkorrektur werden.
Für Anleger bedeutet dies, dass das Risiko für Schuldenschnitte eher gering ist, dafür aber die Inflationsrisiken überwiegen. Historisch haben sich in einem solchen Umfeld Rohstoffe, Immobilien, Infrastruktur und bestimmte Segmente des Aktienmarktes gut entwickelt. Lohnen könnte sich zudem eine Absicherungsstruktur über Inflationsswaps.