„Geldanlage war kein Thema der breiten Gesellschaft“
Vorstandssprecher Gerhard Wiesheu über die fehlende Finanzbildung in Deutschland und darüber, wie sich Banken aufstellen müssen.
Von Susanne Bickel
Die Presse: Herr Wiesheu, Sie sind Themenpate der Finanzbildungsstrategie des Bankverbands Mitte. Beginnen wir mit der Ursachenforschung: Wir leben in einer durch und durch ökonomisierten Welt. Warum tun sich deutschsprachige Länder so schwer in Sachen Finanzbildung?
Gerhard Wiesheu:
Historisch betrachtet war Deutschland immer stark industriell geprägt. Das Thema Finanzen spielte oftmals eher eine Nebenrolle. Man muss sich nur ansehen, wie Bankgeschäfte früher abliefen: Der klassische Schalterverkehr war nicht unbedingt von einem intensiven Dialog gekennzeichnet. Geldanlage war kein Thema der breiten Gesellschaft. Das ist einer der Gründe, weshalb finanzielle Themen in vielen Familien auch keinen so großen Stellenwert gehabt haben. Doch das verändert sich seit einiger Zeit grundlegend. Der Zugang zur Finanzwelt ist heute viel niederschwelliger. Es gibt zahlreiche Plattformen, über die man einfach und unkompliziert in die Welt der Finanzanlage einsteigen kann. Das Interesse wächst, und immer mehr Menschen setzen sich aktiv mit ihren Finanzen auseinander.
Die Aussage, dass sich etwas ändert, kommt oft. Aber in den Zahlen lässt sich das kaum ablesen, die Aktienquote ist auch in Deutschland gering. An welcher Kennziffer machen Sie Wachstum fest?
Es gibt zwar keine exakte Zahl, aber Studien zeigen eindeutig: Das Interesse an Finanzbildung nimmt zu, und viele Schüler wünschen sich, dass das Thema fix im Unterricht verankert wird. Die Frage ist allerdings: Kommen auch die wirklich relevanten Inhalte an? Das betrifft zum Beispiel die Altersvorsorge. Aber genau bei diesem Thema ist es besonders wichtig, denn wer früh anfängt, für das Alter vorzusorgen, hat eine lange Ansparphase und somit die Chance, ein auskömmliches Polster aufzubauen. Ich habe selbst lang in Japan gelebt. Dort lernen Kinder in der Schule, wie man ein Haushaltsbuch führt. Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wofür man Geld ausgibt. Viele Menschen verlieren darüber leicht den Überblick, besonders wenn bargeldlos bezahlt wird: Hier ein Abo, da ein Streamingdienst, und plötzlich summieren sich Ausgaben, die man gar nicht bewusst wahrnimmt.
Es ist wohl keine akademische Frage, eher fehlendes Interesse, speziell beim Thema Altersvorsorge. Wie macht man jungen Erwachsenen Lust auf Finanzwissen?
Finanzbildung muss bei den Grundlagen ansetzen. Denn spätestens nach der Schule wird es konkret: Man verdient Geld, muss Versicherungen abschließen und sollte wissen, wie man langfristig vorsorgt. Heute gibt es deutlich mehr Informationskanäle als früher, Entscheidungen werden heute oftmals in deutlich kürzerer Zeit getroffen. Der Einstieg muss niedrigschwellig und attraktiv sein. Fast jeder lernt lieber, wenn es auch ein bisschen Spaß macht.

Dafür braucht es wertefreie Finanzbildung. Wie wird das an die Pädagogen weitergegeben?
Lehrkräfte gezielt auszubilden ist wichtig, doch in der Praxis hängt vieles vom persönlichen Engagement ab. In Deutschland etwa läuft vieles auf freiwilliger Basis. Umso mehr zeigt sich: Wenn sich Lehrkräfte dafür einsetzen, ist das eine echte Bereicherung für den Unterricht. Es gibt auch Organisationen, die Lehrkräfte mit entsprechendem Material unterstützen oder auch Finanzprofis für eine Unterrichtsstunde vermitteln.
Das heißt, wir müssen noch eine Generation warten, wenn wir nur auf die Freiwilligkeit setzen. Dass sich Pädagogen für die Anleihemärkte interessieren, wird eher ein Nischenphänomen sein. Haben Sie andere Erfahrungen?
Ich halte den österreichischen Ansatz für sehr gelungen – hier werden Schulen, die sich besonders für Finanzbildung engagieren, mit einem Qualitätssiegel ausgezeichnet. So etwas gibt es in Deutschland bislang noch nicht. Sinnvoll wäre eine übergeordnete, nationale Strategie. Zwar war die vorige Regierungskoalition auf einem guten Weg, aber bevor konkrete Beschlüsse gefasst werden konnten, ist sie zerbrochen.
Die EU hat das Thema Finanzbildung auch für sich entdeckt: Ist das hilfreich oder störend?
Initiativen auf EU-Ebene sind grundsätzlich zu begrüßen, viele Impulse und gesetzliche Rahmenbedingungen entstehen in Brüssel. Wenn dort etwas angestoßen wird, hat das Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten. Natürlich liegt die Umsetzung letztlich in nationaler Verantwortung, denn Bildung ist Ländersache. Aber jeder Schritt in Richtung mehr Finanzbildung ist ein positiver.
Geht es beim Thema Finanzbildung tatsächlich um die Etablierung in der Schule? Eigentlich müsste man die Menschen ja nur ausprobieren lassen: Die Person merkt dann selbst, dass sich Aktien auf Dauer lohnen.
„Trial and error“ ist bei der Finanzanlage vielleicht nicht das beste Rezept, denn auch der Faktor Zeit spielt gerade bei der Altersvorsorge eine wichtige Rolle. Gleichzeitig sollten aber auch andere Wege weiter ausgebaut werden. Ein Beispiel: Die betriebliche Altersversorgung ist in Deutschland ein Thema, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, und die Verbreitung sollte weiter vorangetrieben werden. Mit dem Sozialpartnermodell gibt es seit einiger Zeit einen neuen Lösungsweg. Die Beitragszusagen werden zwischen den Tarifparteien – Betrieben und Sozialpartnern – ausgehandelt. Sie vereinbaren eine verbindliche kapitalgedeckte Altersversorgung über eine externe Versorgungseinrichtung, beispielsweise einen Pensionsfonds. Die ersten wurden bereits eingeführt. Wir sehen darin einen der wichtigsten positiven Trends für den Kapitalmarkt: Denn so fließen frische Gelder in den Markt, und die Mitarbeiter können langfristig zu institutionellen Konditionen investieren – durch die ausgehandelten Rahmenbedingungen zwischen Betrieb und Anbieter. Dieses System steht gerade am Anfang. Das Potenzial ist enorm.
Wer hat das umgesetzt?
Frau Nahles von der SPD. Das würde man von der Partei nicht unbedingt erwarten, aber sie schaffte die Garantie bei Betriebsrenten ab und bereitete den Weg für das Sozialpartnermodell. Das ist ein großer Schritt, weil Garantien langfristig viel Geld kosten. Jetzt, da das Vehikel startet, eröffnet das enorme Chancen für den Kapitalmarkt und die Altersvorsorge. Das wird richtig viel bewegen.
Sie waren jahrelang für die Commerzbank tätig. Wie ist Ihr Blick auf die Konsolidierung im Bankensektor?
Der deutsche Markt ist zugleich fragmentiert und konzentriert: Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken decken über 60 Prozent des Retail-Markts ab. Für andere Retail-Banken bleibt wenig Raum zur Expansion – hier ergibt es Sinn, über Skaleneffekte nachzudenken. Im Corporate Banking ist Deutschland dank zahlreicher Industriekunden ein wichtiger Markt, aber der Druck steigt durch verschärfte Regulierung seit der Finanzkrise enorm. Je nach Geschäftsmodell kann die Größe eines Instituts hier relevant sein.
Was heißt das für Kleininstitute?
Die verschärfte Regulierung kann für kleine Institute herausfordernd sein. Das umfangreiche Berichtswesen der Banken sollte reduziert werden, aber dies muss auf EU-Ebene beginnen, bevor es in Deutschland umgesetzt werden kann.
Wie realistisch ist das?
Der Druck wird von außen kommen: Die USA haben deutlich weniger Regulierung als die EU, und Großbritannien nutzt seinen Austritt, um weiter zu deregulieren – davon profitiert auch die vielerorts anstehende Transformation der Wirtschaft. In England sollen etwa die Eigenkapitalanforderungen für Lebensversicherer gesenkt werden – dadurch könnten etwa 100 Milliarden Euro für Infrastruktur freigesetzt werden. Bei den Lebensversicherern gibt es sogenannte Solvency-Margin-Kennzahlen, die angepasst werden sollen. Wir können also nicht einfach abwarten, der Druck ist enorm. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat zuletzt den Eindruck vermittelt, dass erstmals eine Chance auf Deregulierung besteht.
Kann die EU noch reagieren?
Es gibt durchaus noch Spielraum für Gestaltung. Wie Basel III langfristig umgesetzt wird, ist noch offen. Aber klar ist: Die Profitabilitätsunterschiede zwischen Europa und den USA sind riesig, und wir geraten im Vergleich zu den Amerikanern zunehmend ins Hintertreffen.
Ist Basel III noch haltbar?
In den USA wird Basel III ohnehin nicht mehr eingeführt, in Europa bleibt abzuwarten, wie tragfähig die Regelungen sind. Ein Teil ist bereits eingefroren und verschoben, das zeigt, wie sich die Wettbewerbssituation verändert hat. Vor 20 Jahren gab es in Deutschland noch 1200 selbstständige Sparkassen, heute sind es weniger als 300. Ähnlich bei den Volksbanken: von 1600 auf rund 400. Zwar bleiben es eigenständige Banken mit gemeinsamer Einlagensicherung, aber der Regulierungsdruck treibt die Branche zu mehr Größe und Konzentration.
Erschienen in „Die Presse“, 21. Juni 2025
Hinweis: Das Interview wurde gemeinsam mit der „Börsen-Zeitung“ geführt.